SO SIND WIR NICHT, SIND WIR SO?

„Der Mensch ist gar nicht gut. Drum hau ihn auf den Hut. Hast du ihm auf den Hut gehaun, dann wird er vielleicht gut.“, ahnte bereits Berthold Brecht in der Dreigroschenoper (1928). Die Erfahrung, dass der Mensch mitunter „gar nicht gut“ ist, machte auch eine junge Familie, als sie sich ihren Traum vom Häuschen mit Garten am Rande der Stadt verwirklichte. Statt der erhofften Idylle im Grünen, zermürbender Nachbarschaftsstreit, hohe Rechtsanwaltskosten und eine Dauerkarte fürs Bezirksgericht. Laut einer repräsentativen Umfrage von Statista haben in Österreich 60% Probleme mit ihren Nachbarn.(1) Was ist los mit uns? Sind wir eine Nation von Streithansln? Mitnichten, auch in Deutschland befinden sich 11,6 Millionen Haushalte im Nachbarschaftskrieg.(2)

Eigentlich müsste doch alles ganz einfach sein. „Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt“. Dem Zitat von Immanuel Kant ist im Grunde nichts hinzuzufügen, wäre der Mensch nicht bloß ein vernunftbegabtes, sondern auch ein vernünftiges Wesen und bestünde immer Einigkeit darüber, wo die Grenze zwischen der Freiheit des Einen und der des Anderen zu ziehen ist. Wie der Alltag zeigt, bewegen wir uns, gerade wenn es um die Vernunft geht, auf dünnem Eis. Angefeuert durch die „sozialen“ Medien boomt die Irrationalität, haben Verschwörungstheorien, Fake News und dreiste Lügen Hochkonjunktur, tun sich in der Gesellschaft Gräben auf, die bis vor Kurzem niemand für möglich gehalten hätte. Es stimmt schon, dass der Mensch ein Gemeinschaftswesen ist. Aber sobald der Gürtel enger geschnallt werden soll, schwinden Mitgefühl und Solidarität, wird Mitmenschlichkeit als Gutmenschlichkeit verhöhnt.  

Nein, der Mensch ist nicht gut, er ist aber auch nicht schlecht. Er funktioniert lediglich nach den Prinzipien der Evolution. Vereinfacht gesagt geht es in der Evolution um Vorteilsmaximierung.(3) Die Natur kenn keine freiwillige Selbstbeschränkung. Der Homo Sapiens fällt da nicht aus der Reihe. Selbst altruistisches Verhalten ist ein Produkt der Evolution. Wir verhalten uns nur dann uneigennützig, wenn uns die Uneigennützigkeit einen größeren Vorteil bringt als der Egoismus. Auf der psychischen Ebene steuert der „Lust-Unlust-Algorithmus“ unser Verhalten. Wir streben nach Lust und vermeiden Unlust, verzichten nur dann auf Lusterlebnisse, wenn die unmittelbaren oder längerfristigen Konsequenzen zu größerer Unlust führen als der Verzicht. Das gilt für die kleinen Konflikte, wie dem Nachbarschaftsstreit im Schrebergarten genauso wie für die großen, die das Potential haben, die Welt in den Abgrund zu stürzen. Würde der Mensch ein vernunftgesteuertes Wesen sein, wäre die Welt heute ein besserer Ort und nicht vom Untergang bedroht.

Weltuntergangsängste sind nichts Neues. Schon 1833 prophezeite Nestroy in einem berühmt gewordenen Couplet den nahenden Weltuntergang durch einen Kometeneinschlag. Markante Jahreszahlen, Zeitenwechsel oder Daten, die sich vermeintlich aus der Bibel oder anderen heiligen Schriften ableiten lassen, stehen bei Weltuntergangspropheten hoch im Kurs. Seit den frühsten Kulturen gibt es immer wieder Menschen, die wissen wollen, dass „die Welt auf kein´ Fall mehr lang“ stehen würde. Mittlerweile warnen jedoch nicht nur bizarre Sternedeuter, Wahrsager oder Kartenleger vor einem bevorstehenden Supergau, sondern renommierte Wissenschaftler aus den unterschiedlichsten Fachgebieten. Wie schon Nestroy machen auch Sie die Ignoranz und Gier des Menschen für die Bedrohungsszenarien verantwortlich. Klimaerwärmung, Krisen, Kriege, sie alle gehen auf das Konto eines Wesens, das sich selbst als die „Krönung der Schöpfung“ und das „Ebenbild Gottes“ preist.

Allen Anschein nach sind wir Menschen doch nicht so von der Vernunft gesteuert, wie wir uns selbst gerne weismachen wollen, sondern werden von irrationalen Kräften aus einer verborgenen Welt in unserem Kopf gelenkt. Fernab der Realität dreht sich in dieser geheimen Welt alles um Lustmaximierung, oder anders ausgedrückt um unseren Vorteil. Sie bestimmt weitgehend darüber, wie wir uns selbst und die Welt um uns herum wahrnehmen.

Unserem Gehirn stehen Mechanismen zur Verfügung, mit denen es die Realität zurechtbiegen und seinen Wünschen anpassen kann. Wer von uns hat kein geschöntes Bild von sich? Wir sehen uns doch alle nicht so, wie wir sind, sondern so, wie wir uns sehen möchten. Das gilt auch für unsere Sicht der Welt, mit dem Ergebnis, dass wir „gefühlt“ immer richtig und die anderen falsch liegen. Ohne dass wir uns dessen bewusst sind, beugen wir die Realität so lange, bis sie unserem Wunschdenken gerecht wird.

Die menschliche Fähigkeit, Realität durch Illusion zu ersetzen, zeigt sich überall im Alltag. Die Selbst- und Fremdwahrnehmung unterliegen ihr genauso wie unser Verständnis von Recht und Unrecht. Würden wir tatsächlich auf der Seite der Engel stehen, bräuchte es keine Gesetze. Gesetze sind im Laufe der Geschichte nur dort entstanden, wo sie etwas verboten oder regelten, was Menschen im anderen Fall ungehemmt ausgelebt hätten. Sobald Menschen eine Gemeinschaft bilden, braucht es Regeln, sonst behielte nur ein Gesetz Gültigkeit: das Recht des Stärkeren.

So sind wir nicht? Doch, so sind wir.

 

 

(3) Maximierung des Selektionsvorteils