DIE KLASSISCHE PSYCHOANALYSE

Die Psychoanalyse ist untrennbar mit dem Namen Sigmund Freud verbunden, der 1896 erstmals diesen Begriff verwendete. Mit der Entstehung der Psychoanalyse, als erstem tiefenpsychologischen Verfahren, ist zugleich auch der Beginn der modernen Psychotherapie anzusetzen. Bis heute verfügt die Psychoanalyse über das differenzierteste und am weitesten entwickelte Theoriegebäude zur Erklärung der menschlichen Psyche. Eine wesentliche Erkenntnis der Psychoanalyse ist, dass auch das erwachsene Verhalten noch weitgehend von unbewussten kindlichen Wünschen determiniert ist. Der Mensch ist nur an der Oberfläche ein von der Vernunft geleitetes Wesen. Seine unbewussten Handlungsmotive sind meist irrational. Mit Hilfe der psychoanalytischen Methode wird das Unbewusste erforscht und dem Bewusstsein zugänglich gemacht - „wo Es war, soll Ich werden". Die Psychoanalyse ist aber nicht nur eine psychotherapeutische Methode, sondern vor allem eine Erkenntnismethode zum Verständnis gesellschaftlicher, politischer und kultureller Phänomene. Als Psychotherapie ist sie mit Abstand das gründlichste und wirksamste Verfahren.

Historischer Überblick
Freud wurde 1856 in Freiberg (Mähren) geboren und siedelte mit seiner Familie 1859 nach Wien. Nach dem Besuch des Gymnasiums studierte er an der Wiener Universität Medizin. Es folgten wissenschaftliche Arbeiten über die Neuroanatomie bzw. -physiologie sowie eine Assistenzstelle bei Professor Theodor Meynert an der psychiatrischen Klinik. Freud verfasst Arbeiten über Kokain und lehrt als Dozent für Neuropathologie. Vom Herbst 1885 bis zum Frühjahr 1886 arbeitet er bei Charcot in Paris und kommt dort mit dem Krankheitsbild der Hysterie sowie mit der Anwendung der Hypnose in Berührung. 1895 erscheint das Buch "Studien über Hysterie", das er gemeinsam mit Josef Breuer veröffentlicht. 1900 wird sein großes Werk "Die Traumdeutung" publiziert. 1902 folgt die Gründung der "Mittwoch Abend Gesellschaft" , der späteren Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, und Freud wird zum Außerordentlichen Universitätsprofessor ernannt. Der erste internationale psychoanalytische Kongress findet 1908 in Salzburg statt, 1910 wird das Zentralblatt für Psychoanalyse gegründet und 1911 kommt es zum Bruch mit Alfred Adler. 1913 kommt es auch zum Bruch mit C.G. Jung, dem späteren Begründer der Analytischen Psychologie. 1923 erkrankt Freud an Gaumenkrebs und unterzieht sich seiner ersten Operation. 1930 wird ihm in Frankfurt am Main der Goethe-Preis verliehen, den Anna Freud für ihn entgegennimmt. 1933 verbrennen die Nationalsozialisten Freuds Werke und Freud emigriert 1938 nach London. Dort stirbt er am 23.9.1939 an einer Überdosis Morphium.

Ein kurzer Abriss der Psychoanalyse
Die Psychoanalyse ist ein Verfahren zur Untersuchung individueller oder kollektiver seelischer Prozesse, die mit anderen Mitteln nicht oder kaum zugänglich sind. Sie ist eine psychotherapeutische Methode, die dieses Verfahren auf die Erforschung und Behandlung seelischer Störungen und Erkrankungen anwendet. Darüber hinaus handelt es sich bei ihr um eine Wissenschaft, die über die Entstehung und den Ablauf seelischer Vorgänge Einsichten gewinnt und diese zu einer umfassenden Theorie psychischer Funktionen erweitert hat. Als kultur- und gesellschaftskritischer Ansatz, der sich mit kulturellen Normen bzw. der Moral befasst, findet die Psychoanalyse auch Anwendung zum Verständnis gesellschaftspolitischer, wirtschaftlicher und kultureller Entwicklungen.
Der Bereich des Erlebens gliedert sich nach Freud in einen bewussten, einen vorbewussten und einen unbewussten Anteil. Die Inhalte des Bewusstseins sind seelische Elemente, die zu einem bestimmten Zeitpunkt im Bewusstsein abrufbar sind. Das Vorbewusste ist grundsätzlich bewusstseinsfähig, jedoch nur bei Anstrengung dem Bewusstsein zugänglich. Unbewusste Inhalte sind dynamische seelische Elemente, die willentlich nicht abrufbar sind. Meist sind sie der psychischen Zensur unterworfen und verdrängt. Beispiele für die Existenz des Unbewussten sind im individuellen Bereich Träume, Witze, Fehlleistungen, Missgeschicke und neurotische Symptome, sowie irrationale Entwicklungen und Konflikte auf gesellschaftspolitischer und wirtschaftlicher Ebene.

Die Dreiteilung der Psyche in "Es", "Ich" und "Über-Ich"
Erst spät wurden das Drei-Instanzen-Modell von „Es“, „Ich“, „Über-Ich“ in die Psychoanalyse eingeführt. Diese zweite psychoanalytische Theorie über den psychischen Apparat wird Strukturtheorie genannt. Konflikte entstehen im Rahmen der Strukturtheorie immer zwischen den verschiedenen Instanzen. Das Ziel der Psychoanalyse als Therapie ist es, das Ich so weit zu stärken, dass es realitätsgerecht auf innere Impulse und Bedürfnisse reagieren und sie mit den Anforderungen der Außenwelt in Einklang bringen kann.
Dem „Es“ wird die Triebtätigkeit zugeordnet und es deckt sich weitgehend mit dem System des Unbewussten. Allerdings enthält es keine unbewussten „Über-Ich“- oder „Ich“-Anteile.
Das „Ich“ ist die Instanz der Mittlerrolle zwischen den Triebansprüchen, den moralischen Ge-und Verboten und den Ansprüchen der Realität. Die „Ich“-Stärke eines Menschen hängt in gleicher Weise von genetischen und lebensgeschichtlichen Faktoren ab. Ein traumatischer Ablauf der frühkindlichen Lebensphasen (z.B. häufiger Wechsel der Bezugspersonen, mangelnde Kontinuität, fehlende Fürsorge etc.) führt häufig zu einer Beeinträchtigung der Ich-Funktionalität. Das „Ich“ ist dann nicht mehr in der Lage, seiner integrativen Vermittlerfunktion zwischen „Über-Ich“-Ansprüchen und Triebwünschen hinreichend nachzukommen. Da vom „Ich“ sämtliche Abwehrvorgänge ausgehen, muss ein „Ich“-Defekt zwangsläufig zu mangelnder Impulskontrolle führen. Das „Ich“ hat ferner Einfluss auf folgende Funktionen: Realitätsprüfung, Urteilsfähigkeit, Denken, Realitätssinn, Umgang mit Trieben, Affekten und Impulsen sowie die Art und Qualität der Objektbeziehungen.
Das „Über-Ich“ ist die Instanz, die dem „Ich“ gegenüber handlungsleitende Ideale vertritt und ihm im weitesten Sinn vermittelt, wie es sein soll, was es darf und was ihm verboten ist. Das Wirken des „Über-Ichs“ ist an der Entstehung von Schuld- und Schamgefühlen maßgeblich beteiligt. Die Ausrichtung des „Über-Ichs“ orientiert sich weitgehend an den Idealen der Eltern oder deren Substituten.

Der psychoanalytische Triebbegriff
Unter Trieb wird in der Psychoanalyse eine kontinuierlich fließende, körperliche Reizquelle verstanden, die im Organismus für einen steten Spannungszuwachs sorgt. Die Triebe sind an sich unbewusst, machen sich aber im Bewussten als Impulse oder Begierden bemerkbar. Der Ausgangspunkt (Triebquelle) ist ein körperlicher Spannungszustand (Libido); das Ziel (Triebziel) ist die Aufhebung des herrschenden Spannungszustandes; am Objekt (Triebobjekt, z.B. das Genitale einer anderen Person) oder mit Hilfe dieses Objekts kann der Trieb seine Ziele (=die Triebbefriedigung) erreichen. Triebschicksale können als Folgen der psychischen Abwehr gegen verbotene Triebregungen verstanden werden. Die Abfuhr der Triebspannung geht mit einem Lustgefühl einher.

Die psychischen Abwehrmechanismen
Sie sind Strategien des Ichs, um sich gegen "anstößige" Triebansprüche zu wehren. Es werden vier Ebenen von Abwehrmechanismen unterschieden:
- Normale Abwehrmechanismen (Humor, Vorwegnahme, Unterdrückung, Sublimierung)
- Neurotische Abwehrmechanismen (Verdrängung, Regression, Reaktionsbildung, Wendung gegen die eigene Person, Isolierung, Verkehrung ins Gegenteil, Verleugnung, Konversion, Projektion, Introjektion und Identifizierung, Intellektualisierung, Rationalisierung)
- Borderline-Abwehrmechanismen (Spaltung)
- Psychotische Abwehrmechanismen (Entlebung, Belebung, Zersplitterung, Allmachtsphantasien, Größenideen)

Psychoanalytische Entwicklungstheorie
Freud hat einen entscheidenden Beitrag für die Entwicklungspsychologie durch die Entdeckung der infantilen Sexualität und ihrer Phasenentwicklung geleistet. Er unterschied zwischen oraler, analer (urethraler), ödipaler bzw. phallischer Phase, der Latenzzeit, der Pubertät (Adoleszenz) und der Sexualität des Erwachsenen. Die Entwicklung der psychosexuellen Identität geht phasenweise vor sich. In jeder Phase wird in Anlehnung an eine wichtige, neu erworbene Körperfunktion Lust gewonnen.
In der ersten Phase der Triebentwicklung wird Lust über eine Reizung der Lippen und Mundschleimhäute im Zusammenhang mit der Nahrungsaufnahme durch Saugen, Schlucken, Lutschen und Beißen gewonnen - daher orale Phase.
Auf der analen (urethralen) Entwicklungsstufe erlernt das Kind die Kontrolle über seine Ausscheidungsfunktion. Seine neu erworbene Fähigkeit, Kot und Urin zurückzuhalten, ermöglicht ihm eine Spannungssteigerung durch eine Reizung der Darmschleimhaut, beziehungsweise Dehnung der Harnblase. Lust wird auch durch den abrupten Spannungsabfall beim Entleeren von Harn und Darminhalt gewonnen.
Diese Stufe der Triebentwicklung lässt sich durch das Zusammenspiel der Gegensatzpaare "aktiv - passiv", "zurückhalten - loslassen", "herrschen - beherrscht werden", "Macht - Ohnmacht", treffend beschreiben. Die phallische Phase wird zwischen dem dritten und fünften Lebensjahr durchlaufen. Erst in diesem Zeitraum gewinnen die Geschlechtsorgane als Lustquellen an Bedeutung. Befriedigung wird aus allen Formen der Masturbation gewonnen: Reiben, Drücken, Schaukeln, Drehen, Berühren, Schauen und Beschaut werden. In diesem Alter beginnen die sogenannten "Doktorspiele" Kinder entdecken und erforschen ihr eigenes Geschlecht und das andere. Jetzt erst legen sie auf den Geschlechtsunterschied verstärktes Augenmerk. In die nächste Phase fällt die unvermeidliche "ödipale" Rivalität des Kindes mit seinem gleichgeschlechtlichen Elternteil um die Liebe des gegengeschlechtlichen. Die Auflösung des ödipalen Dreiecks bestimmt weitgehend das künftige Schicksal eines Menschen.
Wird das Befriedigungsmuster einer bestimmten Phase über den normalen Zeitraum hinaus beibehalten, prägt diese Fixierung die Persönlichkeit eines Menschen. Je befriedigender die erste Lebensphase verläuft, desto wahrscheinlicher ist die Ausbildung eines kompakten, lustvollen Ich-Kerns.

Technik und Ziele der Psychoanalyse
Das vorrangige Ziel der psychoanalytischen Behandlung ist es, Einschränkungen im Erleben des Patienten dadurch zu beheben, dass Unbewusstes bewusst gemacht wird. Dies geschieht vor allem durch die "freie Assoziation" (alles, was dem Klienten in den Sinn kommt, soll geäußert werden) und durch die Analyse der auftauchenden Übertragungsphänomene. Unter dem Konzept der Übertragung wird die Wiederholung von Gefühlen, Erwartungen und Verhaltensmustern (gegenüber wichtigen Bezugspersonen aus der Kindheit) in der Beziehung zu einem "professionellen Helfer" verstanden. Es handelt sich dabei um eine Neuinszenierung unbewusster infantiler Wünsche in der aktuellen Betreuungsbeziehung.
Die Gegenübertragung beinhaltet sämtliche unbewusste Reaktionen des Therapeuten auf seine Klientel und deren Übertragungsangeboten. Oft handelt es sich dabei um unbewusste Größen-, Macht- oder Retterphantasien, aber auch um sexuelle Wünsche, die in der Interaktion entstehen.
Sämtliche Aussagen und Verhaltensweisen der Klienten, die den Bewusstwerdungsprozess unterbinden, werden als Widerstand bezeichnet. Widerstände sind unbewusst und schützen Klienten vor der schmerzhaften Konfrontation mit verdrängten, abgespalteten Anteilen ihrer Persönlichkeit, die sie nicht wahrhaben können. In der praktischen Arbeit zeigen sich Widerstände beispielsweise dadurch, dass Klienten zu spät kommen oder Termine "verschwitzen". Aber auch bestimmte impulsive Triebhandlungen können durch unbewusste Widerstände motiviert sein. In diesem Fall spricht man vom "Agieren". Das, was der Klient nicht in Worte fassen kann, drückt er nonverbal, in einer Aktion aus.
Eine der wichtigsten Haltungen des Analytikers ist die sogenannte Abstinenzregel. Damit ist gemeint, dass der Therapeut keine (neurotischen) Triebwünsche befriedigt, außerhalb der Therapie keinen Kontakt mit dem Patienten hat, keine Informationskontakte mit Beziehungspersonen des Patienten pflegt und auch keine Informationen über sich selbst geben soll. Wohlwollende Neutralität, Abstinenz gegenüber den Übertragungswünschen der Klienten, Zuhören können, Einfühlungsvermögen und die Handhabung der Gegenübertragung sind Grundpfeiler der abstinenten Haltung.
Analytiker versetzen sich in einen Zustand "gleichschwebender Aufmerksamkeit", d.h. sie nehmen alle vorgebrachten Äußerungen möglichst selektionsfrei, unvoreingenommen und nicht wertend wahr und helfen, diese durch Deutung ihres verborgenen Sinnes zu entschlüsseln. Durch die Deutung der Fülle des Materials, das verbal oder nonverbal von Analysanden kommt, erlangen diese eine tiefere Einsicht in ihre Verhaltensmotivation, Verdrängtes wird bewusst und damit das Ich gegenüber den Kräften des Unbewussten gestärkt.
Eine Psychoanalyse dauert mehrere Jahre und findet in der Regel drei- bis fünfmal die Woche statt. Um das freie Assoziieren zu erleichtern, liegt der Analysand auf der Couch, während der Analytiker für ihn nicht sichtbar am Kopfende sitzt.

Psychoanalytische Psychotherapie

Psychoanalyse und psychoanalytische Psychotherapie eignen sich zur Behandlung folgender Krankheitsbilder:

Ängste, Hemmungen, Zwänge

- Unbestimmte Ängste

- Panikattacken

- Phobien "objekt- oder situationsabhängige Furcht

- Furcht vor engen Räumen und Eingeschlossenheit

- Höhenangst

- Furcht vor Tieren

- Furcht vor sozialen Situationen

- Furcht vor Krankheiten

- Sexuelle Hemmungen

Soziale Hemmungen

- Aktivitätshemmungen

- Zwangsstörungen

- Zwangsimpulse

- Zwangshandlungen

- Zwanghaftes Zweifeln

- Zwanghaftes Grübeln

Depressionen

Sexuelle Funktionsstörungen

- Frauen: Orgasmusstörungen, Schmerzen beim Geschlechtsverkehr, Lustlosigkeit

- Männer: Potenzstörungen, vorzeitiger oder verzögerter Samenerguss, Lustlosigkeit

- Störungen der Sexualpräferenz

- Fetischismus

- Fetischistischer Transvestitismus

- Exhibitionismus

- Voyeurismus

- Pädophilie

- Sadomasochismus

- Störungen der Geschlechtsidentität

- Transsexualismus

- Transvestitismus unter Beibehaltung beider Geschlechtsrollen

- Störung der Geschlechtsidentität des Kindesalters

Essstörungen

- Anorexia nervosa (Magersucht)

- Bulimie (Essen und Erbrechen)

- Adipositas (Übergewichtigkeit)

Borderline und Persönlichkeitsstörungen

Abhängigkeiten und Süchte

Konflikte in der Partnerschaft

Bewältigung von traumatischen Erlebnissen

Erschöpfungsdepression, "Burnout"

Kostenübernahme durch die Kassen

Die Psychoanalyse und die psychoanalytische Psychotherapie sind gesetzlich anerkannte psychotherapeutische Methoden Bei krankheitswertigen Zustandsbildern besteht für die Psychoanalyse wie auch für die psychoanalytisch orientierte Psychotherapie eine Teilrückverrechnungsmöglichkeit mit allen Krankenkassen.

Psychoanalytische Beratung, Supervision und Coaching

Das psychoanalytisch orientierte Supervisionsangebot richtet sich an Berufsgruppen, deren Tätigkeitsprofil durch zwischenmenschliche Beziehungen bestimmt ist: PsychotherapeutInnen, ÄrztInnen, PsychologInnen, SozialarbeiterInnen Ziele der psychoanalytischen Supervison sind:

- Sensibilisierung für unbewusste Prozesse

- erhöhte Selbstreflexionsfähigkeit,

- professionelle Handhabung von Widerständen, Übertragung und Gegenübertragung

Psychoanalytisch orientierte Beratung und Coaching eignet sich für die Reflexion konkreter Lebens- und Berufsprobleme, die Entwicklung strategischer Positionen und Ziele unter Einbeziehung der persönlichen Ressourcen und Defizite, zur Steigerung der Selbstreflexionsfähigkeit und Sensibilisierung für die unbewussten Anteile an der zwischenmenschlichen Interaktion