WUNSCH UND WIRKLICHKEIT

Es gibt nicht den geringsten Hinweis für ein Leben nach dem Tod. Dennoch sind die meisten Menschen von der Unsterblichkeit ihrer Seele überzeugt. Nichts deutet auf die Existenz eines persönlichen Gottes hin. Trotzdem glaubt die überwältigende Mehrheit an ein göttliches Wesen. Einen allmächtigen Schöpfer des Himmels und der Erde, der ihr Schicksal lenkt und am Ende der Tage kommen wird, „zu richten die Lebenden und die Toten.“ Menschen glauben an Götter, Teufel, Engel, Dämonen, Monster, Vampire, Zombies, gute Geister, böse Geister, Hexen, Zauberer, Elfen, Zwerge und Nixen. Sie glauben an Himmel und Hölle, an die Macht der Sterne, die Kraft der Steine, an schwarze Magie, weiße Magie, an die Möglichkeit, in die Zukunft zu sehen, an das Übersinnliche, das jüngste Gericht, die Auferstehung und die Wiedergeburt. Sie glauben an Schlankheitspillen, Mittel gegen Haarausfall, UFO-Entführungen und an das ewige Leben. Nur an die eigene Begrenztheit und Vergänglichkeit, an die glauben sie nicht.

Dessen ungeachtet ist der Mensch in seinem Streben, die Geheimnisse des Universums zu entschlüsseln, weit vorangekommen. Er entwickelt immer anspruchsvollere mathematische Werkzeuge, baut Computer, Radioteleskope, Teilchenbeschleuniger, schickt Raumsonden ins All und hat sein Verständnis für Raum und Zeit, den Aufbau der Materie und die elementare Bedeutung der Evolution für den Mikro- wie für den Makrokosmos kontinuierlich vergrößert. Doch der ganze wissenschaftliche Fortschritt hindert die Mehrzahl der Menschen nicht, in Kirchen, Tempeln, Moscheen Götter anzubeten, in Sekten, Seminaren und esoterischen Zirkeln Gurus zu huldigen, den Weisheiten von Schamanen, Wahrsagern,  Kartenlegern, Sterndeutern zu folgen, teures Geld für Wundermittel auszugeben oder an Heilung durch Handauflegen zu glauben. Immer in der Hoffnung, irgendein Messias würde sie ihrer persönlichen Verantwortung entbinden, sie von ihren Ängsten und Leiden erlösen, ihrem Leben Sinn einhauchen und sie vor der drohenden Auflösung ins Nichts bewahren.

Geschätzte Vierzehnmilliarden Jahre dauerte der Bewusstwerdungsprozess des Universums vom Urknall an. Solange benötigte die Evolution auf unserem Planeten, um zufällig eine Lebensform hervorzubringen, die fähig war, sich zu erkennen. Ein Lebewesen, das Fragen stellen, ja sogar sich in Frage stellen konnte: Warum gibt es mich, woher komme ich, wohin gehe ich - und vor allem, wer bin ich?  Fragen nach der eigenen Identität haben Menschen schon immer zum Nachdenken angeregt. Das Ergebnis dieses Nachdenkprozesses findet sich in den Religionen genauso wie in den Wissenschaften.  Glaube und Wissen sind die Fäden, aus denen unser Weltverständnis gewebt ist. Wobei die Vorherrschaft der auf Glauben beruhenden Welt- und Menschenbilder in jeder Hinsicht bemerkenswert ist. Nicht zuletzt deswegen, weil die Eindringlichkeit und Durchschlagskraft dieser Modelle kaum jemals mit ihrem nachweisbaren Wahrheitsgehalt belegt werden kann. Im Gegenteil, dort, wo religiöse Erklärungsmodelle wie im Fall der Schöpfungslehre wissenschaftlich überprüfbar sind, haben sie sich als falsch herausgestellt. Dessen ungeachtet werden sie weiter geglaubt.

An und für sich sollte ein so Erkenntnis hungriges Wesen wie der Mensch den wissenschaftlichen Fortschritt, das wachsende Verständnis der Naturwissenschaft für die Vorgänge im Universum und seine eigene Rolle darin freudig  begrüßen. Alleine die Geschichte der wissenschaftlichen Entdeckungen seit Beginn der Neuzeit zeigt, dass dem nicht so ist. Die vielen Annehmlichkeiten und Spielereien, die Wissenschaft und Technik der Menschheit beschert haben, sind aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken. Umso erstaunlicher aber, dass das wissenschaftliche Weltbild, welches die Grundlage all dieser Errungenschaften bildet, im Bewusstsein der Bevölkerung nach wie vor nur schwach verankert ist. Immerhin halten weltweit an die 4,5 Milliarden Menschen zumindest teilweise an magischen, religiösen oder esoterischen Weltbildern fest. Trotz vieler Bemühungen, zwischen den ungleichen Weltsystemen Brücken zu bauen, schließen naturwissenschaftliches und magisches Weltbild einander aus.

Ob das magische Weltbild ein fundamentalistisch religiöses oder pseudowissenschaftlich esoterisches Kleid gehüllt ist, bleibt bedeutungslos. Hell kann nicht zugleich dunkel und weiß nicht schwarz sein. Das naturwissenschaftliche Weltbild gründet auf Forschung, Experiment, überprüfbaren Modellen und Vorhersagen. Worauf aber gründet das magische Weltbild? Auf einer göttlichen Offenbarung, auf Eingebungen erleuchteter Menschen, auf dem Wissen, dass Außerirdische unseren Vorfahren vor langer Zeit zugänglich gemacht haben oder auf einem vagen Gefühl, dass „es doch irgendetwas geben müsse, weil sonst alles sinnlos wäre“ - auf Phantasien, die dem menschlichen Wunschdenken entspringen? Wenn es um die Schändung der Vernunft geht, stehen Sekten, New Age und Esoterik den traditionellen Religionen um nichts nach. Esoterik-Jünger präsentieren ihre Unwissenheit gerne in selbstgefälliger Überheblichkeit, frei nach dem Motto: „Was ich glaube, kann ich zwar nicht beweisen, trotzdem weiß ich mehr als die Wissenschaft sich träumen lässt.“ 

Auffallend ist die Verknüpfung des esoterischen Irrationalismus mit nationalistischen, antisemitischen und primitiv antikapitalistischen Strebungen, wie sie vor allem für das Dritte Reich charakteristisch waren. Parallel zur Esoterikszene hat der Psychomarkt das Heilsbedürfnis des Menschen entdeckt. Psychotherapie, Coaching und Beratung boomen wie nie zuvor.   Hier sind die Grenzen zur Religion und Esoterik fließend. Religion, Esoterik, Coaching und ein Gutteil der Psychotherapien, sie alle verstehen sich vorgeblich auf das Heil anderer. Unklar sind bloß ihre Motive und der Realitätsbezug ihrer Heilsversprechen. Der Widerstand von Religion, New Age, Esoterik gegenüber dem wissenschaftlichen Weltbild liegt auf der Hand. Zu Recht fürchten Vertreter der magischen Weltanschauungen, dass die fortschreitende Einsicht in die Naturgesetze ihrem Glauben früher oder später die Grundlage entzieht.

Doch halten ja nicht nur obskure Fundamentalisten, schräge Esoterikfreaks, Berater, Coaches oder manche Psychotherapeuten in der einen oder anderen Form am magischen Weltbild fest. Der Glaube an etwas, „wovon sich die Schulweisheit nichts träumen lässt,“ ist so weit verbreitet, dass andere, weniger offensichtliche Beweggründe als materielle für die Skepsis gegenüber der wissenschaftlichen Weltsicht verantwortlich sein müssen.  Unbewusste Motive, die verständlich machen, warum die breite Öffentlichkeit in Existenzfragen irrationalen Antworten den Vorzug zu gibt. Warum das wissenschaftliche Weltbild bis heute von so vielen Menschen ignoriert, ja sogar geleugnet wird, während Religion, New Age, Esoterik und Aberglaube wie zu allen Zeiten Hochblüten feiern.

Es ist angesichts unseres Wissenstandes lächerlich, dass religiöse oder esoterische Inhalte bis heute in der öffentlichen Diskussion so gehandelt werden, als seien sie definitiv tabu und dürften keiner kritischen Hinterfragung unterzogen werden. Trotzdem scheint sich niemand daran zu stoßen. Im Gegenteil: Noch immer kennt das Strafgesetzbuch in den meisten Staaten den Tatbestand der Gotteslästerung. Umgekehrt scheint es kaum jemand zu stören, wenn Wissenschaftler von Darwin bis Freud von religiösen Eiferern aufs Schlimmste verleumdet werden. Wer sich hingegen kritisch über den Gottesglauben äußert, riskiert im deutschsprachigen Raum eine Haftstrafe, in fundamentalistischen Ländern sein Leben. Es ist bezeichnend, dass sogar in einer laizistischen Wertegemeinschaft wie der Europäischen Union eine hitzige Diskussion stattfand, ob ein Gottesbezug in der Verfassung verankert werden solle oder nicht. Die ganze Situation erinnert an Hans Christian Andersens Märchen „Des Kaisers neue Kleider.“ Im Grunde genommen sind Religionen, New Age, Esoterik genauso nackt wie der eitle Kaiser, trotzdem präsentieren sich die meisten so, als wären sie in prächtige Gewänder gehüllt.

Nicht einmal die zu Recht so oft beschworenen Werte unserer westlichen Zivilisation leiten sich von der christlichen Religion ab, obwohl dies gerne so dargestellt wird. So lange das Christentum die Möglichkeit hatte, übte es seine Macht genauso skrupellos und totalitär aus, wie andere vergleichbare religiöse und politische Heilslehren. Es scheint in Vergessenheit geraten zu sein, dass erst das Zurückdrängen des religiösen Despotismus durch das aufstrebende Bürgertum und Teile des Adels im 18 Jahrhundert die Voraussetzung für unser heutiges Gesellschaftssystem schuf. Kein vernünftiger Mensch wird ernsthaft bestreiten, dass der Laizismus, die Überwindung der religiösen Machtausübung, die radikale Trennung von Kirche und Staat, die Grundlage für die Ausbildung der freien Gesellschaft war, in der wir heute leben. Vergleiche mit Staaten, in denen religiöse und staatliche Gewalt noch immer oder schon wieder zusammenfallen, machen den Unterschied deutlich. Nicht religiöse Werte, sondern die Werte der Aufklärung bestimmen heute das Zusammenleben der Menschen in der westlichen Hemisphäre.

Es dauerte lange, bis sich Vernunft orientierte Einsicht und wissenschaftliche Erkenntnis gegenüber religiöser Magie, Vorurteil und Aberglauben behaupten konnten. Werte wie Freiheit, Gleichheit und Toleranz über Intoleranz, absolutistische Herrschaft, Despotie, Repression und Ständeordnung triumphierten. Freilich soll nicht verschwiegen werden, dass das von der Aufklärung vertretene Menschenbild auf einer falschen Annahme seiner psychischen Möglichkeiten beruhte. Die Annahme, dass der Mensch von Geburt aus gut sei, sowie die Überschätzung seines Verstandes und seiner Veränderbarkeit, kann angesichts der Grausamkeiten, die alleine im zwanzigsten Jahrhundert von Menschen an Menschen begangen wurden, so nicht aufrecht gehalten werden. Die Tragödien des vorigen Jahrhunderts – zwei verheerende Weltkriege, Faschismus, Nationalsozialismus, Stalinismus, Menschen verachtender Holocaust, Genozid – bringen die andere Seite der menschlichen Natur zum Vorschein.

Die seit den Terroranschlägen vom 11. September in den westlichen Industriestaaten kursierende Vorstellung, dass die Talibanisierung der Welt von finsteren Mullahs aus irgendwelchen entlegenen Winkeln dieser Erde betrieben würde und nur rückständige Dritte Welt Staaten dafür anfällig seien, ist falsch. Das Pendant dieser neuen realitätsfernen fundamentalistischen und wissenschaftsfeindlichen Bewegung findet sich paradoxer Weise in den Vereinigten Staaten und zeigt,  dass die USA in ihrer Einstellung zu Religion und Wissenschaft ein gespaltenes Land sind. Worin unterscheiden sich die Ziele der religiösen Rechten in der Republikanischen Partei oder der Tea-Party-Bewegung von den Zielen fundamentalistischer Muslime? Traut man den Umfragen, sind nahezu ein Drittel der US-Bürger wissenschaftliche Analphabeten. Das erstaunt, sind doch die Vereinigten Staaten gleichzeitig weltweit die führende Kraft im Bereich von Wissenschaft und Forschung.

Allem Anschein nach nehmen viele im Land der unbegrenzten Möglichkeiten die biblische Schöpfungsgeschichte allzu wörtlich. Immerhin glauben 33%, dass der Mensch als die Krone der Schöpfung mit all den anderen Lebewesen erst vor rund 6.000 Jahren von Gott erschaffen wurde (das wirkliche Alter des Universums wird hingegen auf 13,2 Milliarden Jahre geschätzt). Für die religiöse Rechte steht es außer Frage, dass Gott lenkend in das Weltgeschehen eingreift. Die praktische Konsequenz dieser Weltanschauung: AIDS ist eine Geißel Gottes. Holocaust, Naturkatastrophen, Schicksalsschläge sind Gott gewollte „Prüfungen.“ Genauso wie es Gottes Wille ist, dass Gläubige über Ungläubige, Männer über Frauen, Weiße über Schwarze, Reiche über Arme herrschen.

War die feindselige Ablehnung des wissenschaftlichen Weltbildes durch die traditionellen Religionen von Anfang an eine durchgängige, so  segelte die Esoterik eine Zeitlang im Windschatten der Naturwissenschaften. Vor allem die Relativitätstheorie und Quantenphysik hatten es den Esoterik-Jüngern angetan und ihre Fantasien zu ungeahnten Höhenflügen motiviert, die freilich immer so dargestellt wurden, als seien sie unumstößlich wahr. Doch in der Esoterik hat sich mittlerweile eine Kehrtwende gegen die wissenschaftliche Denkungsweise vollzogen. Wenn sich die vielen kommunizierten UFO Sichtungen wissenschaftlich genauso wenig beweisen lassen wie der sechste Sinn, positive und negative psychische Schwingungen oder die Rolle der Außerirdischen in der Schöpfungsgeschichte, müssen eben – im Sinne der esoterischen Logik - die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung, nicht aber die behaupteten Inhalte falsch sein.

Es ist unbestritten: Die Menschheit hat in den letzten hundert Jahren mehr Wissen erworben als sämtliche Generationen zuvor. Heute weiß man, dass Raum und Zeit nicht  schon seit ewigen Zeiten existieren, sondern im Urknall einen Anfang hatten. Relativitätstheorie und Quantenmechanik haben unser Weltverständnis grundlegend verändert. Es besteht kein Zweifel mehr, dass das Leben nicht durch einen einmaligen Schöpfungsakt, sondern durch Evolution entstanden ist. Was den freien Willen des Menschen und seine vermeintliche Selbstbestimmung anbelangt, so wurden diese von der Psychoanalyse Sigmund Freuds längst als Fiktion entlarvt. Heute wissen wir, dass das Verhalten des Menschen weitestgehend von unbewussten Prozessen gesteuert wird. Die Ergebnisse der modernen Gehirnforschung unter der Führung maßgeblicher Neurologen wie Antonio R. Damasio und Gerhard Roth lieferte den Beweis für die Macht des Unbewussten und die eingeschränkte Willensfreiheit des Menschen.

Von einer unsterblichen Seele, die den menschlichen Körper im Augenblick des Todes verlässt, ist ohnedies schon lange nicht mehr die Rede. Selbst das Leib-Seele Problem, welches den religiös-gesellschaftlichen Diskurs über so viele Jahre bestimmte, hat sich mittlerweile stillschweigend in Nichts aufgelöst. Dem zum Trotz hat der Aberglaube magischer Weltbilder der wissenschaftlichen Sichtweise bis heute nahezu unbeschadet standgehalten. Wenn Glaubensinhalte schon nicht beweisbar sind, so ist das intuitive „Für-Wahr-Halten“ dieser Verheißungen, die Wahrscheinlichkeit, „dass es so sein könnte,“ doch die mindeste Voraussetzung für deren „Beglaubigung“. Dort, wo Glaubensinhalte nicht einmal dieser primitivsten Form der Realitätsprüfung genügen, ja sogar nachweisbar unwahr sind, müsste ein Mensch, so sollte man meinen, doch die Bereitschaft haben, seine Sichtweise der Realität anzupassen. Doch wie die Alltagserfahrung zeigt, ist vielmehr das Gegenteil der Fall. Die große Mehrheit der Menschen ist eher bereit, die Realität als ihre Überzeugungen in Frage zu stellen.

Glaubensinhalte sind offensichtlich unkorrigierbar. Weit davon entfernt, logisch ableitbar zu sein, zeichnen sie sich dennoch durch Unerschütterlichkeit und subjektive Gewissheit aus. Das Dogma der unbefleckten Empfängnis entbehrt ohne Zweifel einer rationalen Grundlage. Genauso wie die Annahme, dass beim Hochgebet der Messe Brot und Wein in das „Fleisch und Blut Christi“ verwandelt werden. Vom Standpunkt der menschlichen Logik ist es nicht nachvollziehbar, warum ein liebender Gott ein grausames Blutopfer braucht, um einen Erlösungsakt zu setzen. Möglich, dass sich die katholische Kirche bloß an der göttlichen Logik orientierte, als sie im Laufe ihrer Geschichte Millionen Unschuldiger durch Kreuzzüge, Zwangsmissionierungen, Glaubenskriege, Pogrome, Ketzer- und Hexenverbrennungen auf grausamere Weise hinschlachtete. Vielleicht, um der Menschheit ganz nach dem allmächtigen Vorbild die Frohbotschaft des Herrn zu überbringen. Gott opferte seinen Sohn, die kirchlichen Hirten ihre Schafe?

Genau genommen sind weder die Inhalte dieser noch irgendeiner anderen religiösen oder esoterischen Richtung aus rationaler Sicht nachvollziehbar. Es sei denn, man akzeptiert die fraglichen Inhalte im übertragenen Sinn, als Metaphern im kulturhistorischen Kontext oder allegorische Darstellungen des Unbewussten, was von den Glaubensgemeinschaften in seltener Einigkeit aufs Heftigste bestritten wird. Sie alle fordern, dass ihre Dogmen – einerlei ob es sich dabei um die Jungfräulichkeit der Gottesmutter, um den Aufstieg Mohammeds in den Himmel mit einem Elefanten, oder UFO-Sichtungen handelt - in der direkten, naturwissenschaftlichen Bedeutung geglaubt werden.

Subjektive Gewissheit, Nichtableitbarkeit und Unkorrigierbarkeit treffen nicht nur auf Glaubenssysteme zu.  Nach dem Diagnosesystem ICD-10 sind sie die Leitsymptome der wahnhaften Störung. Die wahnhafte Störung, früher als Paranoia bekannt, ist „...charakterisiert durch die Entwicklung eines einzelnen Wahns oder mehrerer aufeinander bezogener Wahninhalte, die im allgemeinen lange, manchmal lebenslang, andauern.“ Noch immer gilt es als anstößig,  Religion und Wahn im selben Atemzug zu nennen. Natürlich gibt es zwischen wahnhaften und religiösen Überzeugungen Unterschiede. Während wahnhafte Überzeugungen in der Regel individuell sind, haben religiöse meist kollektiven Charakter. Dennoch lässt sich die Ähnlichkeit zwischen Glauben, Wahn und Vorurteil, einem den beiden benachbarten Alltags-Phänomen, nicht so leicht von der Hand weisen.

Grund genug, um der Frage nachzugehen, ob diese Ähnlichkeit nur oberflächlicher Natur ist, oder ob zwischen Glaube, Vorurteil und Wahn nicht doch ein tiefere Wesensverwandtschaft besteht, die sich möglicherweise sogar auf gemeinsame Wurzeln zurückführen lässt. Ohne Frage tritt die Realitätsverleugnung beim Glauben, Vorurteil und Wahn am deutlichsten hervor. Aber das heißt nicht, dass sie sich auf diese Bereiche beschränkt. Die menschliche Fähigkeit, Realität  durch Illusion zu ersetzen, zeigt sich überall im Alltag. Die Selbst- und Fremdwahrnehmung unterliegen ihr genauso wie unser Verständnis von Kultur und Natur. Sie ist die Voraussetzung für den Mythos von der Willensfreiheit des Menschen und seiner Überzeugung, die Krönung der Schöpfung, Ebenbild Gottes zu sein.

Rien ne vas plus“ – immer dann, wenn im Leben nichts mehr geht, kommt die Hoffnung ins Spiel.  Es kommt nicht von ungefähr, dass Glaube und Illusion in so enger Verbindung zur Hoffnung stehen und überall dort zur Entfaltung gelangen, wo die Realität unseren Wünschen und Sehnsüchten eine unerbittliche Grenze setzt. Hoffnung geben, Hoffnung leben ist eine der zentralen Botschaften zumindest der christlichen Religion. Ist es da bloß ein Zufall, dass sich der Begriff Wahn etymologisch aus dem mittelhochdeutschen „wen“ ableitet -  was so viel wie Hoffnung bedeutet? Eine spätere Verbindung mit dem mittelhochdeutschen „wan“ (leer) führt zur heutigen Bedeutung „leerer Wahn.“ Sind Glaube und Hoffnung daher nichts anderes als ein leerer Wahn, Trugbilder der Seele, die helfen sollen, die Realität dort zu verschleiern, wo ihre Versagung für den Menschen unerträglich wird? 

Es lässt sich zumindest nicht leugnen, dass magische Weltbilder überall dort ansetzen, wo dem Menschen schmerzhaft die Grenzen seiner Möglichkeiten bewusst werden. Magische Weltbilder verkünden buchstäblich immer das, wonach sich Menschen am stärksten sehnen: das ewige Leben im Paradies, Gerechtigkeit, Glückseligkeit, Vergebung, immer währende Verbundenheit mit den Menschen, die sie lieben und Verdammnis für die, die sie hassen.  Aus psychoanalytischer Sicht besteht kein Zweifel: Magische Weltbilder sind komplexe, fantasierte Wunscherfüllungen. Sie gründen nicht im logischen sondern im magischen Denken, wie es Kindern eigen ist. Kinder denken vorwiegend assoziativ, bildhaft. Sie können zwischen Wunsch und Wirklichkeit, Fantasie und Realität nicht ausreichend unterscheiden- Kinder leben in der Überzeugung, dass sie sich ein Ereignis „nur ganz fest wünschen müssen,“ damit es eintritt und fühlen sich daher stets für das verantwortlich, was um sie herum geschieht – im Guten wie im Bösen.

Ist unser Bild von der Realität bloß ein Puzzle, bei dem die Steine der inneren Wunschwelt mit denen aus der beobachteten Außenwelt so optimal aufeinander abgestimmt sind, dass die Grenzen zwischen Wunsch und Wirklichkeit im Erleben des Menschen verschwimmen? Gott, der Jenseitsglaube, die UFO-Sichtungen, die vermeintliche Erinnerung an frühere Leben, magische Kräfte existieren – aber sie existieren nur in unserer nach außen projizierten Vorstellungswelt und nur weil wir es dringend so wollen um unlustvolle Anteile der Realität in unserem Bewusstsein durch lustvollere zu ersetzen. Unsere Bezug zur Realität ist daher in vieler Hinsicht ein wahnhafter, eine Legierung von Wirklichkeit und Illusionen eben – magisches Denken, Glaube, Aberglaube, Vorurteil und wahnhafte Störung sind nur die Spitze des Eisberges.  Neuerliche Aufklärung tut Not.

Es gibt nicht den geringsten Hinweis für ein Leben nach dem Tod. Dennoch sind die meisten Menschen von der Unsterblichkeit ihrer Seele überzeugt. Nichts deutet auf die Existenz eines persönlichen Gottes hin. Trotzdem glaubt die überwältigende Mehrheit an ein göttliches Wesen. Einen allmächtigen Schöpfer des Himmels und der Erde, der ihr Schicksal lenkt und am Ende der Tage kommen wird, „zu richten die Lebenden und die Toten.“ Menschen glauben an Götter, Teufel, Engel, Dämonen, Monster, Vampire, Zombies, gute Geister, böse Geister, Hexen, Zauberer, Elfen, Zwerge und Nixen. Sie glauben an Himmel und Hölle, an die Macht der Sterne, die Kraft der Steine, an schwarze Magie, weiße Magie, an die Möglichkeit, in die Zukunft zu sehen, an das Übersinnliche, das jüngste Gericht, die Auferstehung und die Wiedergeburt. Sie glauben an Schlankheitspillen, Mittel gegen Haarausfall, UFO-Entführungen und an das ewige Leben. Nur an die eigene Begrenztheit und Vergänglichkeit, an die glauben sie nicht.

Dessen ungeachtet ist der Mensch in seinem Streben, die Geheimnisse des Universums zu entschlüsseln, weit vorangekommen. Er entwickelt immer anspruchsvollere mathematische Werkzeuge, baut Computer, Radioteleskope, Teilchenbeschleuniger, schickt Raumsonden ins All und hat sein Verständnis für Raum und Zeit, den Aufbau der Materie und die elementare Bedeutung der Evolution für den Mikro- wie für den Makrokosmos kontinuierlich vergrößert. Doch der ganze wissenschaftliche Fortschritt hindert die Mehrzahl der Menschen nicht, in Kirchen, Tempeln, Moscheen Götter anzubeten, in Sekten, Seminaren und esoterischen Zirkeln Gurus zu huldigen, den Weisheiten von Schamanen, Wahrsagern,  Kartenlegern, Sterndeutern zu folgen, teures Geld für Wundermittel auszugeben oder an Heilung durch Handauflegen zu glauben. Immer in der Hoffnung, irgendein Messias würde sie ihrer persönlichen Verantwortung entbinden, sie von ihren Ängsten und Leiden erlösen, ihrem Leben Sinn einhauchen und sie vor der drohenden Auflösung ins Nichts bewahren.

Geschätzte Vierzehnmilliarden Jahre dauerte der Bewusstwerdungsprozess des Universums vom Urknall an. Solange benötigte die Evolution auf unserem Planeten, um zufällig eine Lebensform hervorzubringen, die fähig war, sich zu erkennen. Ein Lebewesen, das Fragen stellen, ja sogar sich in Frage stellen konnte: Warum gibt es mich, woher komme ich, wohin gehe ich - und vor allem, wer bin ich?  Fragen nach der eigenen Identität haben Menschen schon immer zum Nachdenken angeregt. Das Ergebnis dieses Nachdenkprozesses findet sich in den Religionen genauso wie in den Wissenschaften.  Glaube und Wissen sind die Fäden, aus denen unser Weltverständnis gewebt ist. Wobei die Vorherrschaft der auf Glauben beruhenden Welt- und Menschenbilder in jeder Hinsicht bemerkenswert ist. Nicht zuletzt deswegen, weil die Eindringlichkeit und Durchschlagskraft dieser Modelle kaum jemals mit ihrem nachweisbaren Wahrheitsgehalt belegt werden kann. Im Gegenteil, dort, wo religiöse Erklärungsmodelle wie im Fall der Schöpfungslehre wissenschaftlich überprüfbar sind, haben sie sich als falsch herausgestellt. Dessen ungeachtet werden sie weiter geglaubt.

An und für sich sollte ein so Erkenntnis hungriges Wesen wie der Mensch den wissenschaftlichen Fortschritt, das wachsende Verständnis der Naturwissenschaft für die Vorgänge im Universum und seine eigene Rolle darin freudig  begrüßen. Alleine die Geschichte der wissenschaftlichen Entdeckungen seit Beginn der Neuzeit zeigt, dass dem nicht so ist. Die vielen Annehmlichkeiten und Spielereien, die Wissenschaft und Technik der Menschheit beschert haben, sind aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken. Umso erstaunlicher aber, dass das wissenschaftliche Weltbild, welches die Grundlage all dieser Errungenschaften bildet, im Bewusstsein der Bevölkerung nach wie vor nur schwach verankert ist. Immerhin halten weltweit an die 4,5 Milliarden Menschen zumindest teilweise an magischen, religiösen oder esoterischen Weltbildern fest. Trotz vieler Bemühungen, zwischen den ungleichen Weltsystemen Brücken zu bauen, schließen naturwissenschaftliches und magisches Weltbild einander aus.

Ob das magische Weltbild ein fundamentalistisch religiöses oder pseudowissenschaftlich esoterisches Kleid gehüllt ist, bleibt bedeutungslos. Hell kann nicht zugleich dunkel und weiß nicht schwarz sein. Das naturwissenschaftliche Weltbild gründet auf Forschung, Experiment, überprüfbaren Modellen und Vorhersagen. Worauf aber gründet das magische Weltbild? Auf einer göttlichen Offenbarung, auf Eingebungen erleuchteter Menschen, auf dem Wissen, dass Außerirdische unseren Vorfahren vor langer Zeit zugänglich gemacht haben oder auf einem vagen Gefühl, dass „es doch irgendetwas geben müsse, weil sonst alles sinnlos wäre“ - auf Phantasien, die dem menschlichen Wunschdenken entspringen? Wenn es um die Schändung der Vernunft geht, stehen Sekten, New Age und Esoterik den traditionellen Religionen um nichts nach. Esoterik-Jünger präsentieren ihre Unwissenheit gerne in selbstgefälliger Überheblichkeit, frei nach dem Motto: „Was ich glaube, kann ich zwar nicht beweisen, trotzdem weiß ich mehr als die Wissenschaft sich träumen lässt.“ 

Auffallend ist die Verknüpfung des esoterischen Irrationalismus mit nationalistischen, antisemitischen und primitiv antikapitalistischen Strebungen, wie sie vor allem für das Dritte Reich charakteristisch waren. Parallel zur Esoterikszene hat der Psychomarkt das Heilsbedürfnis des Menschen entdeckt. Psychotherapie, Coaching und Beratung boomen wie nie zuvor.   Hier sind die Grenzen zur Religion und Esoterik fließend. Religion, Esoterik, Coaching und ein Gutteil der Psychotherapien, sie alle verstehen sich vorgeblich auf das Heil anderer. Unklar sind bloß ihre Motive und der Realitätsbezug ihrer Heilsversprechen. Der Widerstand von Religion, New Age, Esoterik gegenüber dem wissenschaftlichen Weltbild liegt auf der Hand. Zu Recht fürchten Vertreter der magischen Weltanschauungen, dass die fortschreitende Einsicht in die Naturgesetze ihrem Glauben früher oder später die Grundlage entzieht.

Doch halten ja nicht nur obskure Fundamentalisten, schräge Esoterikfreaks, Berater, Coaches oder manche Psychotherapeuten in der einen oder anderen Form am magischen Weltbild fest. Der Glaube an etwas, „wovon sich die Schulweisheit nichts träumen lässt,“ ist so weit verbreitet, dass andere, weniger offensichtliche Beweggründe als materielle für die Skepsis gegenüber der wissenschaftlichen Weltsicht verantwortlich sein müssen.  Unbewusste Motive, die verständlich machen, warum die breite Öffentlichkeit in Existenzfragen irrationalen Antworten den Vorzug zu gibt. Warum das wissenschaftliche Weltbild bis heute von so vielen Menschen ignoriert, ja sogar geleugnet wird, während Religion, New Age, Esoterik und Aberglaube wie zu allen Zeiten Hochblüten feiern.

Es ist angesichts unseres Wissenstandes lächerlich, dass religiöse oder esoterische Inhalte bis heute in der öffentlichen Diskussion so gehandelt werden, als seien sie definitiv tabu und dürften keiner kritischen Hinterfragung unterzogen werden. Trotzdem scheint sich niemand daran zu stoßen. Im Gegenteil: Noch immer kennt das Strafgesetzbuch in den meisten Staaten den Tatbestand der Gotteslästerung. Umgekehrt scheint es kaum jemand zu stören, wenn Wissenschaftler von Darwin bis Freud von religiösen Eiferern aufs Schlimmste verleumdet werden. Wer sich hingegen kritisch über den Gottesglauben äußert, riskiert im deutschsprachigen Raum eine Haftstrafe, in fundamentalistischen Ländern sein Leben. Es ist bezeichnend, dass sogar in einer laizistischen Wertegemeinschaft wie der Europäischen Union eine hitzige Diskussion stattfand, ob ein Gottesbezug in der Verfassung verankert werden solle oder nicht. Die ganze Situation erinnert an Hans Christian Andersens Märchen „Des Kaisers neue Kleider.“ Im Grunde genommen sind Religionen, New Age, Esoterik genauso nackt wie der eitle Kaiser, trotzdem präsentieren sich die meisten so, als wären sie in prächtige Gewänder gehüllt.

Nicht einmal die zu Recht so oft beschworenen Werte unserer westlichen Zivilisation leiten sich von der christlichen Religion ab, obwohl dies gerne so dargestellt wird. So lange das Christentum die Möglichkeit hatte, übte es seine Macht genauso skrupellos und totalitär aus, wie andere vergleichbare religiöse und politische Heilslehren. Es scheint in Vergessenheit geraten zu sein, dass erst das Zurückdrängen des religiösen Despotismus durch das aufstrebende Bürgertum und Teile des Adels im 18 Jahrhundert die Voraussetzung für unser heutiges Gesellschaftssystem schuf. Kein vernünftiger Mensch wird ernsthaft bestreiten, dass der Laizismus, die Überwindung der religiösen Machtausübung, die radikale Trennung von Kirche und Staat, die Grundlage für die Ausbildung der freien Gesellschaft war, in der wir heute leben. Vergleiche mit Staaten, in denen religiöse und staatliche Gewalt noch immer oder schon wieder zusammenfallen, machen den Unterschied deutlich. Nicht religiöse Werte, sondern die Werte der Aufklärung bestimmen heute das Zusammenleben der Menschen in der westlichen Hemisphäre.

Es dauerte lange, bis sich Vernunft orientierte Einsicht und wissenschaftliche Erkenntnis gegenüber religiöser Magie, Vorurteil und Aberglauben behaupten konnten. Werte wie Freiheit, Gleichheit und Toleranz über Intoleranz, absolutistische Herrschaft, Despotie, Repression und Ständeordnung triumphierten. Freilich soll nicht verschwiegen werden, dass das von der Aufklärung vertretene Menschenbild auf einer falschen Annahme seiner psychischen Möglichkeiten beruhte. Die Annahme, dass der Mensch von Geburt aus gut sei, sowie die Überschätzung seines Verstandes und seiner Veränderbarkeit, kann angesichts der Grausamkeiten, die alleine im zwanzigsten Jahrhundert von Menschen an Menschen begangen wurden, so nicht aufrecht gehalten werden. Die Tragödien des vorigen Jahrhunderts – zwei verheerende Weltkriege, Faschismus, Nationalsozialismus, Stalinismus, Menschen verachtender Holocaust, Genozid – bringen die andere Seite der menschlichen Natur zum Vorschein.

Die seit den Terroranschlägen vom 11. September in den westlichen Industriestaaten kursierende Vorstellung, dass die Talibanisierung der Welt von finsteren Mullahs aus irgendwelchen entlegenen Winkeln dieser Erde betrieben würde und nur rückständige Dritte Welt Staaten dafür anfällig seien, ist falsch. Das Pendant dieser neuen realitätsfernen fundamentalistischen und wissenschaftsfeindlichen Bewegung findet sich paradoxer Weise in den Vereinigten Staaten und zeigt,  dass die USA in ihrer Einstellung zu Religion und Wissenschaft ein gespaltenes Land sind. Worin unterscheiden sich die Ziele der religiösen Rechten in der Republikanischen Partei oder der Tea-Party-Bewegung von den Zielen fundamentalistischer Muslime? Traut man den Umfragen, sind nahezu ein Drittel der US-Bürger wissenschaftliche Analphabeten. Das erstaunt, sind doch die Vereinigten Staaten gleichzeitig weltweit die führende Kraft im Bereich von Wissenschaft und Forschung.

Allem Anschein nach nehmen viele im Land der unbegrenzten Möglichkeiten die biblische Schöpfungsgeschichte allzu wörtlich. Immerhin glauben 33%, dass der Mensch als die Krone der Schöpfung mit all den anderen Lebewesen erst vor rund 6.000 Jahren von Gott erschaffen wurde (das wirkliche Alter des Universums wird hingegen auf 13,2 Milliarden Jahre geschätzt). Für die religiöse Rechte steht es außer Frage, dass Gott lenkend in das Weltgeschehen eingreift. Die praktische Konsequenz dieser Weltanschauung: AIDS ist eine Geißel Gottes. Holocaust, Naturkatastrophen, Schicksalsschläge sind Gott gewollte „Prüfungen.“ Genauso wie es Gottes Wille ist, dass Gläubige über Ungläubige, Männer über Frauen, Weiße über Schwarze, Reiche über Arme herrschen.

War die feindselige Ablehnung des wissenschaftlichen Weltbildes durch die traditionellen Religionen von Anfang an eine durchgängige, so  segelte die Esoterik eine Zeitlang im Windschatten der Naturwissenschaften. Vor allem die Relativitätstheorie und Quantenphysik hatten es den Esoterik-Jüngern angetan und ihre Fantasien zu ungeahnten Höhenflügen motiviert, die freilich immer so dargestellt wurden, als seien sie unumstößlich wahr. Doch in der Esoterik hat sich mittlerweile eine Kehrtwende gegen die wissenschaftliche Denkungsweise vollzogen. Wenn sich die vielen kommunizierten UFO Sichtungen wissenschaftlich genauso wenig beweisen lassen wie der sechste Sinn, positive und negative psychische Schwingungen oder die Rolle der Außerirdischen in der Schöpfungsgeschichte, müssen eben – im Sinne der esoterischen Logik - die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung, nicht aber die behaupteten Inhalte falsch sein.

Es ist unbestritten: Die Menschheit hat in den letzten hundert Jahren mehr Wissen erworben als sämtliche Generationen zuvor. Heute weiß man, dass Raum und Zeit nicht  schon seit ewigen Zeiten existieren, sondern im Urknall einen Anfang hatten. Relativitätstheorie und Quantenmechanik haben unser Weltverständnis grundlegend verändert. Es besteht kein Zweifel mehr, dass das Leben nicht durch einen einmaligen Schöpfungsakt, sondern durch Evolution entstanden ist. Was den freien Willen des Menschen und seine vermeintliche Selbstbestimmung anbelangt, so wurden diese von der Psychoanalyse Sigmund Freuds längst als Fiktion entlarvt. Heute wissen wir, dass das Verhalten des Menschen weitestgehend von unbewussten Prozessen gesteuert wird. Die Ergebnisse der modernen Gehirnforschung unter der Führung maßgeblicher Neurologen wie Antonio R. Damasio und Gerhard Roth lieferte den Beweis für die Macht des Unbewussten und die eingeschränkte Willensfreiheit des Menschen.

Von einer unsterblichen Seele, die den menschlichen Körper im Augenblick des Todes verlässt, ist ohnedies schon lange nicht mehr die Rede. Selbst das Leib-Seele Problem, welches den religiös-gesellschaftlichen Diskurs über so viele Jahre bestimmte, hat sich mittlerweile stillschweigend in Nichts aufgelöst. Dem zum Trotz hat der Aberglaube magischer Weltbilder der wissenschaftlichen Sichtweise bis heute nahezu unbeschadet standgehalten. Wenn Glaubensinhalte schon nicht beweisbar sind, so ist das intuitive „Für-Wahr-Halten“ dieser Verheißungen, die Wahrscheinlichkeit, „dass es so sein könnte,“ doch die mindeste Voraussetzung für deren „Beglaubigung“. Dort, wo Glaubensinhalte nicht einmal dieser primitivsten Form der Realitätsprüfung genügen, ja sogar nachweisbar unwahr sind, müsste ein Mensch, so sollte man meinen, doch die Bereitschaft haben, seine Sichtweise der Realität anzupassen. Doch wie die Alltagserfahrung zeigt, ist vielmehr das Gegenteil der Fall. Die große Mehrheit der Menschen ist eher bereit, die Realität als ihre Überzeugungen in Frage zu stellen.

Glaubensinhalte sind offensichtlich unkorrigierbar. Weit davon entfernt, logisch ableitbar zu sein, zeichnen sie sich dennoch durch Unerschütterlichkeit und subjektive Gewissheit aus. Das Dogma der unbefleckten Empfängnis entbehrt ohne Zweifel einer rationalen Grundlage. Genauso wie die Annahme, dass beim Hochgebet der Messe Brot und Wein in das „Fleisch und Blut Christi“ verwandelt werden. Vom Standpunkt der menschlichen Logik ist es nicht nachvollziehbar, warum ein liebender Gott ein grausames Blutopfer braucht, um einen Erlösungsakt zu setzen. Möglich, dass sich die katholische Kirche bloß an der göttlichen Logik orientierte, als sie im Laufe ihrer Geschichte Millionen Unschuldiger durch Kreuzzüge, Zwangsmissionierungen, Glaubenskriege, Pogrome, Ketzer- und Hexenverbrennungen auf grausamere Weise hinschlachtete. Vielleicht, um der Menschheit ganz nach dem allmächtigen Vorbild die Frohbotschaft des Herrn zu überbringen. Gott opferte seinen Sohn, die kirchlichen Hirten ihre Schafe?

Genau genommen sind weder die Inhalte dieser noch irgendeiner anderen religiösen oder esoterischen Richtung aus rationaler Sicht nachvollziehbar. Es sei denn, man akzeptiert die fraglichen Inhalte im übertragenen Sinn, als Metaphern im kulturhistorischen Kontext oder allegorische Darstellungen des Unbewussten, was von den Glaubensgemeinschaften in seltener Einigkeit aufs Heftigste bestritten wird. Sie alle fordern, dass ihre Dogmen – einerlei ob es sich dabei um die Jungfräulichkeit der Gottesmutter, um den Aufstieg Mohammeds in den Himmel mit einem Elefanten, oder UFO-Sichtungen handelt - in der direkten, naturwissenschaftlichen Bedeutung geglaubt werden.

Subjektive Gewissheit, Nichtableitbarkeit und Unkorrigierbarkeit treffen nicht nur auf Glaubenssysteme zu.  Nach dem Diagnosesystem ICD-10 sind sie die Leitsymptome der wahnhaften Störung. Die wahnhafte Störung, früher als Paranoia bekannt, ist „...charakterisiert durch die Entwicklung eines einzelnen Wahns oder mehrerer aufeinander bezogener Wahninhalte, die im allgemeinen lange, manchmal lebenslang, andauern.“ Noch immer gilt es als anstößig,  Religion und Wahn im selben Atemzug zu nennen. Natürlich gibt es zwischen wahnhaften und religiösen Überzeugungen Unterschiede. Während wahnhafte Überzeugungen in der Regel individuell sind, haben religiöse meist kollektiven Charakter. Dennoch lässt sich die Ähnlichkeit zwischen Glauben, Wahn und Vorurteil, einem den beiden benachbarten Alltags-Phänomen, nicht so leicht von der Hand weisen.

Grund genug, um der Frage nachzugehen, ob diese Ähnlichkeit nur oberflächlicher Natur ist, oder ob zwischen Glaube, Vorurteil und Wahn nicht doch ein tiefere Wesensverwandtschaft besteht, die sich möglicherweise sogar auf gemeinsame Wurzeln zurückführen lässt. Ohne Frage tritt die Realitätsverleugnung beim Glauben, Vorurteil und Wahn am deutlichsten hervor. Aber das heißt nicht, dass sie sich auf diese Bereiche beschränkt. Die menschliche Fähigkeit, Realität  durch Illusion zu ersetzen, zeigt sich überall im Alltag. Die Selbst- und Fremdwahrnehmung unterliegen ihr genauso wie unser Verständnis von Kultur und Natur. Sie ist die Voraussetzung für den Mythos von der Willensfreiheit des Menschen und seiner Überzeugung, die Krönung der Schöpfung, Ebenbild Gottes zu sein.

Rien ne vas plus“ – immer dann, wenn im Leben nichts mehr geht, kommt die Hoffnung ins Spiel.  Es kommt nicht von ungefähr, dass Glaube und Illusion in so enger Verbindung zur Hoffnung stehen und überall dort zur Entfaltung gelangen, wo die Realität unseren Wünschen und Sehnsüchten eine unerbittliche Grenze setzt. Hoffnung geben, Hoffnung leben ist eine der zentralen Botschaften zumindest der christlichen Religion. Ist es da bloß ein Zufall, dass sich der Begriff Wahn etymologisch aus dem mittelhochdeutschen „wen“ ableitet -  was so viel wie Hoffnung bedeutet? Eine spätere Verbindung mit dem mittelhochdeutschen „wan“ (leer) führt zur heutigen Bedeutung „leerer Wahn.“ Sind Glaube und Hoffnung daher nichts anderes als ein leerer Wahn, Trugbilder der Seele, die helfen sollen, die Realität dort zu verschleiern, wo ihre Versagung für den Menschen unerträglich wird? 

Es lässt sich zumindest nicht leugnen, dass magische Weltbilder überall dort ansetzen, wo dem Menschen schmerzhaft die Grenzen seiner Möglichkeiten bewusst werden. Magische Weltbilder verkünden buchstäblich immer das, wonach sich Menschen am stärksten sehnen: das ewige Leben im Paradies, Gerechtigkeit, Glückseligkeit, Vergebung, immer währende Verbundenheit mit den Menschen, die sie lieben und Verdammnis für die, die sie hassen.  Aus psychoanalytischer Sicht besteht kein Zweifel: Magische Weltbilder sind komplexe, fantasierte Wunscherfüllungen. Sie gründen nicht im logischen sondern im magischen Denken, wie es Kindern eigen ist. Kinder denken vorwiegend assoziativ, bildhaft. Sie können zwischen Wunsch und Wirklichkeit, Fantasie und Realität nicht ausreichend unterscheiden- Kinder leben in der Überzeugung, dass sie sich ein Ereignis „nur ganz fest wünschen müssen,“ damit es eintritt und fühlen sich daher stets für das verantwortlich, was um sie herum geschieht – im Guten wie im Bösen.

Ist unser Bild von der Realität bloß ein Puzzle, bei dem die Steine der inneren Wunschwelt mit denen aus der beobachteten Außenwelt so optimal aufeinander abgestimmt sind, dass die Grenzen zwischen Wunsch und Wirklichkeit im Erleben des Menschen verschwimmen? Gott, der Jenseitsglaube, die UFO-Sichtungen, die vermeintliche Erinnerung an frühere Leben, magische Kräfte existieren – aber sie existieren nur in unserer nach außen projizierten Vorstellungswelt und nur weil wir es dringend so wollen um unlustvolle Anteile der Realität in unserem Bewusstsein durch lustvollere zu ersetzen. Unsere Bezug zur Realität ist daher in vieler Hinsicht ein wahnhafter, eine Legierung von Wirklichkeit und Illusionen eben – magisches Denken, Glaube, Aberglaube, Vorurteil und wahnhafte Störung sind nur die Spitze des Eisberges.  Neuerliche Aufklärung tut Not.