NORBERT UND DIE STARKEN MÄNNER - eine Parabel anlässlich der Wiederholung der Bundespräsidentenwahl in Österreich 2016

Alle in diesem Text geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und keinesfalls beabsichtigt. Für den Autor gilt die Unschuldsvermutung.

Norbert hat Pech. Am Ende des Schuljahres steht er in einem Fach auf "Nicht genügend". Jetzt hat er einen Nachzipf. Blöd gelaufen. Zwei Monate später sitzen er und Alexander, ein Leidensgenosse, Angstschweiß triefend über ihren Prüfungsfragen. Ein paar Meter vor ihnen ein gelangweilter Lehrer, der die Prüfung beaufsichtigt. Irgendwann bimmelt dessen Handy. Ein Anruf seiner Frau. Um diese Zeit? Ungewöhnlich! Vielleicht irgendetwas mit den Kindern? Er geht kurz hinaus. Ah, eh nichts Wichtiges. "Du ich kann gerade nicht telefonieren..."

Am nächsten Tag werden die Prüfungsergebnisse bekanntgegeben. Alexander hat bestanden, Norbert ist durchgefallen. Das schmerzt. Die Welt kann so ungerecht sein. Als der Papa von Norbert erfährt, dass sein Sohn durchgefallen ist, will er das nicht glauben. An Norbert kann es nicht liegen, tüchtiger Junge. Nicht so ein Drückeberger wie viele junge Leute heutzutage. Aber die Lehrer, dieses unfähige Gesindel. Kennt man ja. Arbeiten eh nur einen halben Tag lang und pfeifen sich um nichts. Alles Schmarotzer. Sein Sohn ein Versager? Niemals! Da hat garantiert so ein unnötiger Sozi die Finger im Spiel, oder ein atavistischer Grüner - noch ärger. Norbert und durchfallen? Sicher nicht. Das schau' ich mir an, giftet er. Wer zuletzt lacht… Eilig begibt er sich zu seinem älteren Bruder, einem mit allen Wassern gewaschenen Winkeladvokaten. Der lässt sich von Norbert den Prüfungsablauf bis ins kleinste Detail schildern. "Ha, was? Euer Lehrer ist während der Prüfung aus dem Zimmer gegangen?" "Eh nur ganz kurz." "Kusch! Das ist ja unerhört!"

Ein paar Tage später, nach eingehendem Studium der Prüfungsordnung, spricht Norberts Onkel in der Direktion vor. Mit dem Brustton des Entrüsteten macht er dort geltend, dass die Prüflinge während der Prüfung eine Zeitlang unbeaufsichtigt gewesen seien. "Na und?" "Ja, aber hätten die Schüler während dieser Zeit nicht schummeln können?" "Theoretisch ja, aber gehen sie!" Aufgrund der Länge des Telefonats wird festgestellt, dass die Prüfungsaufsicht gerade einmal für 14 Sekunden vernachlässigt wurde. "Da hätte nicht einmal der Einstein geschweige denn ihr Neffe oder der Alex... ich bitte Sie!" "Was? Sie rechtfertigen diese unfassbare Schlamperei auch noch? Skandalös! Ich bin entsetzt. Wer kann bei solchen Missständen garantieren, dass das Prüfungsergebnis korrekt zustande gekommen ist? Ha? Was Recht ist muss Recht bleiben!" Schon donnert seine Faust auf die Schreibtischplatte, dass es nur so staubt. Der Direktor zuckt zusammen. "Immerhin handelt es sich hier um einen schweren Verstoß gegen die Prüfungsordnung," drohend hebt der Anwalt seinen Zeigefinger. "So etwas kann man doch nicht auf die leichte Schulter nehmen. Wir leben ja in keiner Bananenrepublik." Unerbittlich pocht er auf Wiederholung der Wiederholungsprüfung. Im Hintergrund nickt der Papa von Norbert zustimmend. Na eben, Zustände wie in einer Bananenrepublik. Unerhört. Natürlich wissen beide, dass Lehrer schon zu ihrer Zeit während der Prüfungsaufsicht Hefte korrigiert, Zeitung gelesen, oder kurzfristig den Raum verlassen haben. Es hat sich noch nie jemand daran gestoßen. Aber jetzt, wo Norbert durchgefallen ist, sieht die Sache naturgemäß anders aus. "Was Recht ist, muss Recht bleiben," moniert der Onkel von Norbert noch einmal, macht am Absatz kehrt und verlässt gefolgt von Norberts Papa und Norbert erhobenen Hauptes den Raum. Zurück bleibt ein verdutzter Direktor, der um Fassung ringt.

Nicht ganz zwei Wochen später prüft die zuständige Schulbehörde den Sachverhalt. Eine nochmalige Inspektion der Prüfungsarbeiten ergibt, dass die 14 sekündige Abwesenheit der Prüfungsaufsicht keinesfalls ausreichend war, um die Antworten durch Schummelei so zu manipulieren, dass das Prüfungsergebnis dadurch beeinflusst hätte werden können. Norbert hat die Prüfung nachweislich versaut, Alexander hingegen bestanden. Aber weil die biedere Schulbehörde diesen Fall als gute Gelegenheit sieht ihre moralische Kompetenz hervorzuheben, schließlich wurden in letzter Zeit andere Behörden gerade wegen einer solchen Haltung in den Medien hoch gelobt, ordnet sie aus formalen Gründen eine Wiederholung der Prüfung an. Nicht immer ist es klug, aus eitler Selbstgefälligkeit in die Rolle des Saubermanns zu schlüpfen, vor allem dann nicht, wenn dabei der Bezug zur Realität verloren geht. Dieser Umstand wird der Schulbehörde allerdings erst zu spät bewusst, als bereits viele namhafte Experten ihren Bescheid durch den Kakao ziehen und sie sich mit ihrer lebensfernen Entscheidung längst der Lächerlichkeit preisgegeben hat. Doch auch ein Fehlurteil ist ein Urteil. Und wie schon eine alte Volksweisheit besagt, des einen Leid ist des anderen Freud' - oder umgekehrt?

Als der Bescheid einige Tage später Norberts Onkel zugestellt wird, klopft sich der jedenfalls vor Freude auf die Schenkel. Was bin ich doch für ein Teufelskerl, feixt er, ein rechter Tausendsassa! Am Abend lassen er und Norberts Papa die Sektkorken knallen. Auch Norbert darf zur Feier des Tages ein Schlückchen mittrinken. Die Eltern von Alexander, aber auch viele andere unbeteiligte Eltern, Lehrer und Schüler sind über die Entscheidung der Schulbehörde entsetzt. Schließlich hat Alexander die Prüfung doch ehrlich bestanden und wird jetzt aus formalen Gründen um seinen Erfolg geprellt? Das kann es aber nicht sein, haben die noch alle? Da könnte doch ein jeder kommen und das Prüfungsergebnis in Frage stellen, nur weil die Prüfungsaufsicht gerade einmal zum Fenster ´rausgeschaut hat. Wollen die solange beeinspruchen, bis der Norbert endlich einmal durchkommt? Das kann ja lustig werden. Eh klar, der Papa wird's schon richten... und dass es der Papa richten kann, sich sogar über die Realität eines hieb und stichfesten Prüfungsergebnisses hinwegsetzen kann, das hat er hinlänglich bewiesen. Diese Gemeinheit liegt allen, die noch an Gerechtigkeit glauben, gleichermaßen schwer im Magen. Und sie macht Angst. Das Vertrauen in die Schulbehörde ist nachhaltig erschüttert.

Schlechte Verlierer sind selten beliebt. Diese Erfahrung muss auch Norbert machen, als er am Tag nach der Bekanntgabe der Verfügung seine Klasse betritt. Es ist ein offenes Geheimnis, dass Norbert seit geraumer Zeit auf Eva steht. Umso mehr bekümmert es ihn, wie er an diesem Morgen von ihr empfangen wird. "Norbert, du miese Ratte. Nur um Deinen Arsch zu retten theaterst du den Alex rein?" "Wennst schon nichts lernst, dann steh wenigstens zu Deinem Fleck," ein anderer. "Schleich Dich heim zu Deinem Papa, du Würstchen," ein dritter. Protektion und unfaires Verhalten kommen bei Jugendlichen nicht gut an. Na und, denkt sich Norbert, sind sie halt heiß auf mich. Das wird sich schon wieder legen. Zum Glück gibt es ja auch welche, die ihm zu seinem Husarenstück gratulieren. Dass es sich bei den Schulterklopfern nicht gerade um die besten Köpfe seiner Klasse handelt, stört Norbert nicht.

Auch wenn er versucht, sich die Welt schön zu färben, kann er nicht leugnen, dass sich das Klima ihm gegenüber verändert hat. Er spürt die unterschwellige Verachtung, die ihm jetzt entgegengebracht wird. Mitschüler, mit denen er immer gut war, lassen ihn plötzlich links liegen. Lehrer, deren Anerkennung er sucht, gehen höflich auf Abstand. Eltern, die er kennt, erwidern seinen Gruß nicht mehr. Einladungen bleiben aus, Party wird jetzt vornehmlich ohne Norbert gemacht. Nur die Kameraden aus seiner Bude und einige Nerds gehen mit Norbert noch gerne auf ein, zwei, oder drei Bier.

Der Taschenspielertrick seines Onkels hat Norbert eine unerwartete Chance eröffnet, der Kollateralschaden ist jedoch beträchtlich. Um verlorenes Terrain gut zu machen, verlegt sich Norbert auf Aussagen, mit denen er in seiner Umgebung zu punkten hofft. War er gestern noch dieser, ist er heute jener Meinung. Behauptete er gestern das, vertritt er heute das genaue Gegenteil. Seine Mitschüler merken das und machen sich über ihn lustig. "Wendehals Norbert," spotten sie. "Glaubst Du, Du kannst uns für blöd verkaufen?" Natürlich kann er das. Schließlich hat er von seinen alten Herren gelernt, dass man Lügen nur oft genug wiederholen muss, damit sie geglaubt werden. Daher lügt er jetzt mehr denn je, schamlos ohne Bedenken und hofft auch dieses Mal damit durchzukommen.

"Du musst bei diesen Trotteln bloß ihre niedrigsten Instinkte für gutheißen, ihnen das Gefühl geben, dass sie Anrecht darauf haben, ihre Missgunst und ihren Hass anderen gegenüber auszuleben, selbst Menschen, die Du für den übelsten Abschaum hältst, darin noch bestärken, dass sie besser, ja, Teil des Herrenmenschentums sind. Dann noch ein wenig Neid und Zwietracht säen und schon fressen sie Dir aus der Hand. Du wirst sehen." Ja, die Philosophie seiner Altvorderen funktioniert überall in gleicher Weise perfekt. Warum nicht auch in seiner Klasse? "Die meisten sehen die Verhältnisse eh nicht so wie sie sind, sondern immer nur so, wie sie sie sehen wollen," weiß Norberts Onkel und Norberts Vater nickt dazu. "Du brauchst also nur ihre Vorurteile salonfähig zu machen, dann laufen sie Dir hinterher wie die Hunderln, sogar in den eigenen Untergang," ergänzt er augenzwinkernd. "Wenn Du verstehst was ich mein'?" Norbert versteht worauf er anspielt. Über seine Widersacher denkt er, ja schimpft nur, ihr Idioten. Wer schimpft der kauft. Euch stecke ich alle in die Tasche. Wartet nur, bis ich einmal was zu sagen habe. Dann wird euch das Lachen schon vergehen. Nur dass Eva seit Neuestem mit Alexander herumhängt und ihn keines Blickes mehr würdigt, trifft Norbert bis ins Mark.

 

1) Eine Parabel zur Wiederholung der Bundespräsidentenwahl vom 22. Mai 2016 in ganz Österreich. Die Stichwahl fand zwischen Alexander Van der Bellen (GRÜNE) und Norbert Hofer (FPÖ) statt.